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Julian Heynen

Das Gegebene und das Entzogene

Am Rande der Stadt, mit einem Anflug von Idylle, in gut situierter Nachbarschaft, zur ebenen Erde, gleich hinter dem Windfang ein gediegener, offener Wohnraum von heute. Nur wenig wurde beiseite geräumt oder geglättet, um Platz für Kunstwerke zu schaffen. Dort ein formschöner Stuhl, hier ein kleiner Tisch, ein paar Kataloge, ein Gästebuch. Das Private wird nicht geleugnet; es wird gerade so geweitet, dass andere Welten darin Einlass finden können. Die Standardsituation des White Cube ist herunter gestimmt auf eine Lebenswelt von unauffälliger Gelassenheit. Als wenn hier noch einmal der Traum von der glücklichen Nähe zur Kunst als einer bürgerlichen Selbstverständlichkeit gelebt werden sollte. Welche Kunstwerke auch immer hier für einige Monate – nicht als Möblierung, sondern als Ausstellung – hinein gebracht werden, sie werden ihre Welt in eine glaubhafte, eine produktive Beziehung zur Privatwelt des Hauses setzen müssen.

Was kann ein Bildhauer hier tun, der zwar jahrelang aus einem (ganz anderen, viel bescheideneren) Wohnhaus heraus gearbeitet hat, aber nicht nur mit den physischen Dimensionen seiner Arbeiten alles Nur-Individuelle oder gar Heimelige sprengt? Und was eine Fotografin, die mit großer Geduld und Ausdauer in räumlich und kulturell weit entfernte Länder reist und versucht, mit Vorsicht einzelne, fragile Zeugnisse oder vielmehr Zustände von dort in ihre/unsere Welt zu transponieren? Beide arbeiten mit unbekannten, noch nicht erkannten, ebenso materiellen wie mentalen Räumen. Und beide müssen, um in diesem Haus überhaupt anfangen zu können, den gegebenen Raum untereinander verhandeln. Ihre künstlerischen Mittel sind ungleich: verhältnismäßig kleine Schwarz-Weiß-Fotos im Schutz von Passepartout und Rahmen bei der einen, rohe, mitunter schwere und alltägliche Materialien bei dem anderen. Bilder, Perspektiven, Projektionen hier, berührbare, unumgängliche Objekte dort. Der einfache Weg wäre eine Aufteilung des Raumes gewesen: Seite an Seite, Rücken an Rücken, eine Zonierung, die einer Aufreihung gleichkommt. Es wäre ein geläufiger Kompromiss gewesen, der wahrscheinlich weder der Affinität zwischen dem Werk von Ursula Schulz-Dornburg und Mirosław Bałka noch der Herausforderung der Wohnsituation gerecht geworden wäre. Stattdessen wurde im wörtlichen wie im übertragenen Sinn ein Zwischenraum geschaffen. Zwischen den Arbeiten der beiden Künstler, zwischen ihnen und dem umgebenen Raum, aber auch ein Raum für das vielfältige Dazwischen in beiden Werken. Es ist ein geteilter Raum, aber auch einer, der sich als weder Hier noch Da von den klar definierten Territorien im Umfeld abgrenzt, fast ein Niemandsland, auf jeden Fall ein Versuchsfeld für Gegenstände und Gedanken, die sich nicht still stellen lassen.

Mit einer einfachen, aber markanten Setzung zieht der Bildhauer die Grenzen von Wand und Decke in den drei Raumabschnitten nach und entwickelt aus dieser Geste eine auf das statisch Notwendige reduzierte Konstruktion aus Flachstahl, die frei im Raum steht. Es ist so, als ob die Konturen des Raums als eigenständige Formen aus ihm hervorgetreten seien und nun einen zweiten, kleineren Raum in ihm bilden würden. Die Spur des Eingriffs lässt sich ohne weiteres auf den gegebenen Raum zurück beziehen, aber gleichzeitig behauptet sich die Struktur als autonome Form. Obwohl sie allein aus Umrissen besteht und so nur einen virtuellen Raum beschreibt, ist sie stark genug, das Gefüge des Hauses neu zu bestimmen. Dabei fordert nicht nur der Raum im Innern der Konstruktion Aufmerksamkeit, sondern ebenso jener gerade einmal menschenbreite Abstand zwischen ihr und den Wänden. Noch bevor man sich auf dieses Gestänge als Skulptur einlässt, fällt seine Fähigkeit auf, die Wandflächen aus dem Haus gleichsam herauszulösen. Die Bilder der Fotografin, die unregelmäßig verteilt an den Wänden hängen, scheinen nicht mehr so sehr vom Haus als stützender, bergender Form getragen zu werden als von jenem schwer zu definierenden Zwischenraum, den der Eingriff des Bildhauers geschaffen hat. Ohne in irgendeiner Weise in Konfrontation zum Haus zu geraten, ist so eine Freizone entstanden, die sich beide Arbeiten teilen. Ein Ort gesteigerter Präsenz und Konzentration – unabhängig von der Geläufigkeit des Wohnens. Es ist ein unbestimmter und auch fragiler Bereich ohne klare Grenzen, in dem sich die Einflusssphären der einen und der anderen Arbeit überschneiden bzw. durchdringen. Räumlich gesprochen sind hier die Affinität des Werkes von Bałka und Schulz-Dornburg und also auch die Begründung der gemeinsamen Ausstellung zu suchen.

Gehen wir, der Konvention folgend, zuerst an den Bildern entlang. Aus ihren verschiedenen Werkgruppen hat die Fotografin Motive aus Gegenden gewählt,
die, grob gesprochen, entlang des 45. Längengrades liegen, von St. Petersburg im Norden bis zum Hedschas im heutigen Saudi-Arabien. Es ist eine Linie, die eine ‚andere’ Geografie und Geschichte definiert, nicht die des Westens, sondern eine östliche. Der Bogen spannt sich von den Kulturen des Zweistromlandes und des alten Ägypten über das frühe, kleinasiatische Christentum und die Orthodoxie bis zum Islam. Es sind die Regionen eines ‚nahen’ Ostens, des nächstgelegenen Ostens, aber eine Betrachtung der Welt von dieser Achse aus zeigt ein alternatives Konzept von ihr. Nun entwirft Schulz-Dornburg kein kulturhistorisches Panorama, sondern übermittelt nur einzelne Spuren von etwas. Die meisten Fotos sind Aufnahmen, die in ihrem Kern die Zeit hervorholen, d. h. jenen Abstand, den sie zwischen einem Jetzt und einem Damals schafft, das sich in einem Hier und einem Dort ausdrückt. Die Bilder zeugen aber auch von einer irritierenden Verschränkung zwischen der Unüberbrückbarkeit des zeitlich/räumlichen Abstandes und einer erahnten, vielleicht ersehnten Nähe zu dieser doppelten Ferne. Nicht umsonst sind die scheinbare Leere der Wüste, das Niemandsland zwischen den Zivilisationspunkten oder die Distanz eines heiligen Berges zentrale Motive. Und auch dann noch, wenn zwei Menschen von heute an einer Haltestelle in der Einöde uns direkt anblicken, scheinen sie aus einem anderen Zeit-Raum zu kommen. Die Bilder von versunkenen historischen Städten Mesopotamiens, die nur noch in Senken und Aufwerfungen ebenfalls längst versunkener archäologischer Grabungen Reste von Spuren hinterlassen haben, holen vielleicht am deutlichsten die Zeit als das unerbittlichste Phänomen des Abstandes, der uns als Verlust erscheint, hervor. Hier hat sich Zivilisation in ‚leere’ Natur zurück verwandelt. Sehen diese Beinahe-Stätten in der Wüste nicht auch ein wenig wie alte Wunden, wie verschorfte Stellen auf der Oberfläche der Erde aus, vernarbte ‚Zeugen’ einer Zeit und eines Lebens, zu denen wir nur unter größten Anstrengungen einen unsichern Bezug herstellen können? Oder die Aufnahmen anderer Wüsten, die von Menschenspuren gänzlich frei zu sein scheinen. Nur der Horizont und das Wissen, dass hier über Jahrtausende wichtige Handels-, Kriegs- und Pilgerwege durchführten, der Wunsch zu verstehen, warum und wie Menschen die erschöpfende, ja mörderische Reise durch solche Un-Räume unternommen haben, lässt Zeit in einer anderen, aber ebenso existentiellen Weise als eigentliches Thema der Bilder erscheinen. Es sind Zeitdimensionen, in denen ein einzelner Lebensplan, eine einzelne Lebensspanne wenig zählt und doch durch ihre Verbindung mit der kollektiven Existenz und Anstrengung in diesen Wüstenräumen Bedeutung erlangt. Bewohner von besiedelten Gebieten können sich Wüsten meist nur als Zwischenräume auf dem Weg von einem festen Ort zu einem anderen vorstellen, als Transitstrecken, die überwunden werden müssen, als Zonen der Ausnahme und der Unruhe. Nur wenige haben seit alters her dort ihren Aufenthalt genommen, haben die Aufhebung der gewöhnlichen Lebensverhältnisse gesucht, um in dieser Zone einen anderen Zwischenraum zu erkunden, nämlich den zwischen Diesseits und Jenseits. Man denke z. B. an die frühen christlichen Mönche und Einsiedler, die in diesem „Weltschatten“ (Peter Sloterdijk) einen Ort der Abkehr von der einen und der Zuwendung zu der anderen Welt finden wollten. Das Foto des Totentempels an der heutigen iranischen-irakisch Grenze rückt einen verwandten Ort zwischen dem Hier und dem Dort wörtlich ins Zentrum. Aus einfachen Steinplatten, aber wie für eine nicht-menschliche Dauer errichtet steht dieses letzte Haus in einem ansonsten fast diffusen Nirgendwo. Es ist der Versuch, auf den Raum und die Zeit jenseits des Lebens mit den Mitteln der physischen Welt hinzuweisen, wissend, dass so höchstens ein exterritorialer Raum zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten gebannt werden kann. Das gleiche könnte für die Mumie im geöffneten Sarg gelten, bei der man im Hintergrund noch die Museumsvitrine ahnt, in der sie zur Schau entblößt wurde. Die prekäre Ortlosigkeit des konservierten Körpers wird durch die Kuriosität, zu der er geronnen ist, zwar ins beinahe Absurde gesteigert, der Raum, den das ehemalige Menschenleben besetzt, ist jedoch schon von sich aus eine jener widersprüchlichen Exklaven, die geschaffen werden, um die Begegnung von Leben und Tod dinglich zu machen. Der Raum, den das auf seinem improvisierten Lager liegende Kind einnimmt, wirkt im Vergleich dazu wie das vorübergehende Zwischenreich des Schlafes, des kleinen Bruders des Todes. Aber dann, überraschend in diesem Kontext, das Figurenbild aus der St. Petersburger Metro, als einziges in der Ausstellung hoch oben außer Reichweite in der Nähe der Decke angebracht. Schnappschuss oder Inszenierung? Der kurze Moment, in dem sich ein Mann mit nacktem Oberkörper, ein anderer, mit dem er vage Gesten tauscht, ein Zuschauer weiter oben und der wie abwesende Blick eines Jungen begegnen, hat etwas leicht Surreales. Wie so viele Fotografie ist es nur ein eingefrorener Augenblick im Vorübergehen. Unerklärlicher Weise aber erscheinen seine Akteure als Verkörperungen eines bedeutenden Vorgangs oder Sinns. In dem zufälligen Sekundenbruchteil auf der Rolltreppe hat sich ein ganz anderer Zeitraum eingenistet, der so lang ist wie eine Frage, die nicht beantwortet wird. Der Betrachter erkennt das Missverhältnis zwischen beiden und beunruhigt aber interessiert kehrt er immer wieder in diese schwebende Raum-Zeit zurück.

Die Zwischenräume der Geografie und der Zeit in der Stille dieser Fotos beherbergen ein Paradox. Als Räume des Weder-Noch und als offene Strecken zwischen vermeintlichen Fixpunkten des Lebens ist man in ihnen den Dimensionen des Fremden, der Weglosigkeit, der Aufhebung des gewöhnlichen Rhythmus ausgesetzt. Ohne vertraute Koordinaten drohen Orientierungs- und Kontrollverlust. Gleichzeitig jedoch machen die Bilder jenen Punkt ein Stück weit wahrscheinlich, an dem Beunruhigung in Befreiung umschlagen kann. Die Verlorenheit in den herrenlosen Ländern von Raum und Zeit wird zu einem Ort, d. h. einen Platz, an dem Raum, Ich und Zeit in eins fallen. Es ist schwer zu sagen, was genau in den Fotos den Betrachter auf einen solchen Ort zuführt. Es sind nicht nur die Topoi, also die Wüste, die Weite, die Leere oder das einzelne Haus, der Tempel, das Grab, und damit das Wissen über ihren Platz in der kulturellen Überlieferung. Man müsste über der Zentralisierung der Motive, über die grundsätzliche Frontalität der Begegnung mit den Gegenständen reden, die nicht nur das, was dargestellt ist, sondern auch den Betrachter als Gegenüber still stellen. Oder über das Beharren auf dem Schwarz-Weiss, dieser subtilen Reduktion, die dem zeitgenössischen Farbsehen zuwieder läuft und gleichsam die Übermittlungsgeschwindigkeit des Bildes zurücknimmt. Aus den Fotos spricht so ohne Zweifel eine meditative Haltung, ein Sehen, das sich nicht nur Zeit nimmt, sondern unmerklich, aber beharrlich über das mit den Augen allein Wahrnehmbare hinaus drängt. Gleichzeitig aber sollte man auch die Nüchternheit des Blicks in diesen Bildern nicht übersehen. Sie fügt einen sachlichen Unterton hinzu, eine materialistische Grundierung, die über die Grenzen der Medien hinweg, aber im Rahmen einer Generation zu so unterschiedlichen künstlerischen Ansätzen wie etwa denen von Carl Andre, Bernd und Hilla Becher oder Lawrence Weiner korrespondiert.

Auch Mirosław Bałkas bildhauerische Arbeit begnügt sich seit den frühen 90er Jahren mit reduzierten Formen und einfachen Materialien, die das zeigen, was sie sind. Die Konstruktion, die er nun in die Räume des Wohnhauses eingestellt hat, besitzt gerade jenes Maß an Festigkeit und Gewicht, dass sie es mit der Architektur aufnehmen, dass sie als eine alternative Definition dieser Räume gelten kann. Die wagerechten Linien knapp unter der Decke folgen im wesentlichen dem Verlauf der Wände, die senkrechten markieren die statisch notwendigen Auflagepunkte. Soweit ist der Eingriff eine, wenn auch freie und selbstbewusste Reproduktion des vorhandenen Raumes. Er umspielt und interpretiert auf einer zunächst formalen Ebene die Architektur und schafft so den oben erwähnten Zwischenraum für die Fotos von Schulz-Dornburg und für die gemeinsame Ausstellung.

In Bałkas Werk tauchen auch an anderen Stellen aus dem Grundriss eines Hauses entwickelte Skulpturen auf. Der Ausgangspunkt für solche Umschreibungen konkreter Räume, die sich von diesem wiederum absetzen, ist nicht irgendein Gebäude, sondern das biografisch und künstlerisch für ihn so wichtige Haus seiner Großeltern in der kleinen Stadt Otwock in der Nähe von Warschau. Über lange Zeit hat er es als Atelier benutzt, hat er Bilder von ihm in seine Publikationen eingestreut. Wichtiger noch: Vieles aus ihm fand direkten Eingang in die Faktur seiner Arbeiten. Das Haus ist eine Art Ur-Ort für ihn, an dem sich das im eigenen Körper manifestierte Leben, das Wissen um den Platz dieses Ortes in der größeren Geschichte und die konkreten Materialien zu einem das Werk bis heute tragenden Impuls verbinden. In mehreren Bodenskulpturen wird so 1993 und 1994 der Grundriss der Küche als Zentrum des Hauses in Otwock im Maßstab 1:1 in vereinfachter Form übertragen. 2001 wählt Bałka nicht nur die genaue geografische Positionsbestimmung des Hauses als Titel einer Ausstellung (21°15’00’’E 52°06’17’’N), sondern errichtet in ihr ein abstrahiertes, aber lebensgroßes Modell des Gebäudes. Solche Verlagerungen von konkreten Raumeigenschaften erproben die Möglichkeit, etwas von der persönlichen Bedeutung des Hauses an einem anderen Ort allgemein werden zu lassen. Den Skulpturen haftet dabei trotz aller Veränderung und Selbstständigkeit gegenüber ihrer Herkunft etwas Fetischartiges an. Das liegt nicht nur an den Materialien, die aus dem Haus zumindest stammen könnten, sondern auch an den Zusätzen, die über ein reines Zitat räumlicher, geometrischer Aspekte hinausgehen. Diese Anreicherungen der Rahmenform weisen in den älteren Arbeiten einen recht eindeutigen Weg: Ausschnitte in Grabform, die Verwendung von Asche als Oberfläche oder eine Art Tränenbrunnen bringen eine, wenn auch reduzierte Symbolik mit nicht zuletzt religiösen Untertönen ins Spiel.

Bei der Münchner Arbeit ändern sich die Akzente. Schon beim Eintritt wird man nachdrücklich durch die gebogenen Armierungsstangen irritiert, die an den horizontalen Stahlbändern angeschweißt sind. Sie sind im Weg, man muss den Kopf einziehen. Exakt zum Viertelkreis gebogen, mal einzeln, mal paarweise richten sie sich nach innen und behindern eine freie, sorglose Bewegung im Raum. In Stirn- bzw. Augenhöhe richten sie sich mit einer latenten Aggressivität auf den, der sich ihnen nähert. Der Körper assoziiert Empfindungen wie Verletzung und Schmerz, der Verstand erinnert sich an leicht zu missbrauchende Haken und Instrumente. Geht man in dem so bewehrten Raum umher, fällt aber auch die Sorgfalt auf, mit der die gebogenen Elemente gesetzt sind. Keineswegs dominant, ja eigentlich fast filigran sind sie unregelmäßig verteilt und behindern auch nicht die Betrachtung der Fotos an den Wänden. Ihr ruhiger Schwung verwandelt die sachliche, technische Struktur in einen affektiven Raum, der sich bei aller Offenheit auf sein eigenes Innere konzentriert. Dieses Innere aber ist der Raum dessen, der sich in ihm bewegt. Nach einiger Zeit stellt sich dabei ein eigentümlicher Zustand ein, der beides zugleich umfasst: Bedrohung und Bewahrung. Scheinbar nebenbei, aber nicht leichtfertig hat Bałka das Wort Dornenkrone fallen gelassen. Alles Leidenspathos, das in diesem Wort steckt, ist hier sicher fern, aber auf einer abstrakteren Ebene scheint es Sinn zu machen. Die Dornen fügen Schmerz zu, aber sie bilden auch eine Krone, die jenseits der verhöhnenden Absicht die Identität dessen, der sie trägt, bewahrt. Für einen Moment scheint so auch hier ein Thema auf, das der Künstler in fast allen Arbeiten, und sei es noch so zurückhaltend, berührt. Er führt den Betrachter an Situationen heran, in denen die dunklen Seiten des Lebens, Leiden, Tod anklingen. Gleichzeitig aber gibt er den Arbeiten zumindest andeutungsweise eine Wendung, die den, er sich auf sie einlässt, in gewissem Maß dort heimisch machen kann. Es gibt eine der Münchner Skulptur strukturell ähnliche Arbeit, die, wen auch mit sehr viel expliziteren, erzählerischen Mitteln ebenfalls einen Zwischenraum herstellt. Rudimentären Fassaden gleich stehen drei offene Elemente in einem gangbreiten Abstand vor der Wand. Die eingelassenen Terrazzoplatten erinnern nicht umsonst an die Kühle und Blässe von Grabsteinen. Mit wenigen Elementen, einer Art Hocker, zwei kleinen Behältern und zwei brennenden Glühlampen jedoch wird der abweisend-entrückten Situation etwas vom normalen Leben beigegeben: Die Abbreviatur eines Hauses für die Toten und die Lebenden. Die Münchner Arbeit ist weit weniger explizit und verzichtet auch auf evokative Details wie bei den vorhin erwähnten Skulpturen. Hier herrscht eine ganz andere Zurückhaltung oder besser: Sublimierung. Das Band zum konkreten Haus in Otwock, nicht aber das zu den in ihm gewachsenen Erfahrungen und Themen, ist gekappt. Stattdessen formuliert nur eine Art Skizze oder räumlicher Geste mit der Spur eines metaphorischen Verweises eine ungewohnte Balance zwischen Ausgesetztsein und Geborgenheit. Der „gekrönte Innenraum“ (M.B.) ist nicht allein das gemeinsame Gehäuse für die Arbeiten der beiden Künstler, er kann zum paradoxen, aber nicht mehr antagonistischen Innenraum dessen werden, der sich in ihm aufhält und ihn annimmt.

Die Ausstellung hat, von der Fotografin vorgeschlagen, einen Titel erhalten, ein deutsches Wort, das aus einer anderen Zeit zu stammen scheint: „Horizontabschreitung“. Der Philosoph Hans Blumenberg, der es in einem Buch über die Annäherung an Johann Sebastian Bachs „Matthäuspassion“ (und die Religion als solche) benutzt, macht klar, dass es nur eine Metapher sein kann, denn in der Wirklichkeit öffnet sich jedes mal, wenn man am Ziel eines Horizonts tatsächlich anlangt, ein neuer.* „Nur mit dem Auge kann man den Horizont abgehen.“ Und weiter: „er öffnet das Feld, das er umschließt, als die ‚Nähe’ des für uns Deutlichen und Erreichbaren, der Orientierung in Richtungen und Distanzen; aber er beschränkt uns auch auf die ‚Enge’ des Nahen [...].“ Im „Gegebenen“ gibt es immer ein „Entzogenes“. Die Horizonte, die Ursula Schulz-Dornburg in die Welt, die Ferne hinein aufmacht, um etwas von der Nähe des Selbst zu finden, korrespondieren unter der gewählten Metapher bei Mirosław Bałka mit dem gleichsam umgestülpten Horizont ins Innere des Selbst, der eine Perspektive auf die größtmögliche Ferne jenseits des Lebens zu öffnen versucht. Beide wissen, dass das „Abwesende“ nie das „ganz Abwesende“ ist.

* Hans Blumenberg, Matthäuspassion. Frankfurt/M. 1988



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